Der Tennisgott, der unter Teufel fiel

Wir hatten hohen Besuch – so ziemlich den höchsten, den man in Deutschland auf einem Tennisplatz haben kann: Boris Becker hat in unserer neuen Halle einen Werbespot gedreht. Wie es sich anfühlt, einer Legende zu begegnen.

Text und Fotos: Ferdinand Dyck

Um kurz vor 10 Uhr an einem Dienstag Mitte November sitzt Boris Becker im Vorstandszimmer der Treptower Teufel und wird geschminkt. Zur Sicherheit gleich nochmal: Boris Becker. Treptower Teufel. Vorstandszimmer. Richtig gelesen.

Am Tisch, auf dem sonst unsere Schläger liegen, die neue Saiten brauchen, verpasst eine Maskenbildnerin dem Gesicht des größten männlichen deutschen Tennisspielers aller Zeiten hinter einem Sichtschutz einen kräftigen Anstrich. Bereitet Becker auf einen Werbespot vor, den er kurz darauf in unserer Hartplatz-Halle drehen wird.

Dass es dazu gekommen ist, hat viel mit Zufall zu tun. Eigentlich war der Shoot in Mailand geplant, wo Becker lebt. Doch die Produktion wurde kurzfristig um 840 Kilometer verlegt, nach Berlin. Warum, scheint niemand so ganz genau zu wissen. Der Produktionsleiter vermutet, “dass es Boris so wahrscheinlich besser gepasst hat”.

Jedenfalls googelte das Team auf gut Glück “Tennishalle Berlin”. Erster Treffer: Treptower Teufel. Ein paar Emails später chauffiert ein schwarzer Kleinbus den dreifachen Wimbledon-Siegers aus einem Luxushotel in Charlottenburg auf die Willi-Sänger-Sportanlage.

Am Eingang zur Halle stehen da schon Tische, Kisten, Kamera-Boxen. Hinten auf Platz 11 – das ist der in Richtung Platz 8 – ist das Mini-Set aufgebaut. Nur zwei riesige Lampen und Schirme stehen auf dem blauen Court, dazwischen Stative mit Kameras drauf. Viel Kulisse braucht die 15-köpfige Crew nicht, die Kulisse sind ja wir.

Der Dreh an sich verläuft so unspektakulär, wie man das von einem Werbe-Shoot wahrscheinlich erwarten muss. Nur die Laubbläser auf der Köpenicker Landstraße rauben dem Tonmann zu Beginn kurz die gute Laune. Dann muss sich Boris Becker drei Stunden lang immer wieder Sätze auf Englisch merken, die er anschließend jeweils ein paar Mal hintereinander in Kameras und Mikros spricht. Was genau er sagt, ist, genau wie das Produkt, um das es geht, streng geheim. Und natürlich völlig egal. Interessanter: Boris gucken.

Wie er immer wieder ganz allein über die Plätze streift, einen Zettel mit dem nächsten Slogan in der Hand, die Sätze vor sich aufsagt. Man sieht ihm an, dass er das alles nicht erst seit gestern macht. Der berühmte AOL-Spot – “Bin ich da schon drin oder was?” – ging vor mittlerweile 26 Jahren auf Sendung. Nur der Gang des sechsfachen Grand-Slam-Champions federt nicht mehr wie einst. Becker humpelt – die Hüfte.

Oder wie er vor der Kamera steht, die Hände unten vor dem Körper gefaltet. Jeder, der schon mal Eurosport geschaut hat, kennt die Pose. Der Blick erst ausdruckslos, dann, auf Knopfdruck, das weltbekannte Lächeln: um den Mund charmant und ein bisschen verschlagen, um die Augen, die immer wieder kräftig blinzeln, ein bisschen müde.

Wie er alles im Blick hat. Die Kamera. Das Team. Auch mich, als ich zum ersten Mal in der Halle auftauche. Nicht sonderlich neugierig schaut er in meine Richtung, aber er mustert mich ein paar Sekunden lang, ordnet mich ein. Vor allem: die Uhrzeit. Wenn es ihm nicht schnell genug geht, übernimmt er kurzerhand die Regie. “So, das war jetzt gut so, würde ich sagen”, moderiert er einen Take an. “Bisschen schneller bitte”, einen anderen an.

Was auffällt: Wie ernst dieser Mann hier auftritt. Ernst und unnahbar. Wirft er sich den beigefarbenen Mantel über, um ein paar Minuten an die frische Luft zu kommen, vermeidet er beim Weg zur Tür Blickkontakt. Macht am Set jemand einen Scherz, lächelt er nicht. Viele Scherze werden dann auch nicht gemacht.

Ob schnell ein Selfie drin wäre, fragt einer den Stargast, als der gerade am Netz wartet, während die Regie die nächste Einstellung vorbereitet. “Jetzt wird gearbeitet”, unterbricht der ihn. “Der Job kommt zuerst, vielleicht später”, sagt er. Es klingt nicht unbedingt unfreundlich. Aber es klingt auch nicht freundlich.

Am ehesten scheint Becker Freude zu haben, als er zum Schläger greifen darf. Ein schwarzes 600-Euro-Modell ohne Markenaufdruck hat die Crew am Vortag irgendwo in Berlin aufgetrieben und mit Naturdarm besaiten lassen, zumindest macht diese schöne Version der Geschichte die Runde. Mit Silke, unserer Clubtrainerin, spielt er erst ein paar Vor- und Rückhände im Halbfeld. Lächelt dabei sogar ein paar Mal –, obwohl die Kameras da noch aus sind.

“So, jetzt Volleys”, sagt er dann, mit der natürlichen Autorität eines Mannes, der selbst zu den größten Coaches der Welt gehört. Der Novak Djokovic vor zehn Jahren erklärt hat, wo das Netz steht und warum es sich lohnen könnte, dort auch hin und wieder vorbeizuschauen. Der zuletzt einige Monate mit Holger Rune zusammenarbeitete und  immer wieder als potenzieller Trainer Alexander Zverevs gehandelt wird.

Auf dem Platz übernimmt Becker mehr und mehr das Kommando. Er dirigiert die Kamera, erklärt nach vielleicht zehn Minuten: “So, das war’s jetzt, oder?” Als ich am Ende das Gruppenfoto mit Crew und Teufel-Vertretern schieße, signalisiert er mir schon, aufs Tempo zu drücken, bevor sich überhaupt alle neben ihm am Netz versammelt haben.

Ich werde später lange darüber nachdenken, was mir diese kurze Begegnung verraten hat über den Mann, den ich zu kennen glaubte, seit ich ein Kind war. Den ich zu seiner aktiven Zeit zwar nicht verehrt hatte – dafür kam ich zu spät zum Tennis –, für den ich mit den Jahren aber immer größeren Respekt entwickelt habe.

Weil ich finde, dass er sehr kluge Sachen über Tennis zu sagen hat. Und weil ich es bemerkenswert finde, dass er trotz Rückschlägen, die für ein paar Leben reichen würden, unbeirrbar sein Ding zu machen scheint. Dass er – keine drei Jahre, nachdem er noch in England im Gefängnis saß – wieder groß im Geschäft ist, gerade einen Bestseller geschrieben hat, erfolgreich podcastet, der mit Abstand wichtigste deutsche Tennis-Experte bleibt.

Erkenntnis: Ich kenne Boris Becker natürlich überhaupt nicht. Ich hatte ihn mir jovialer vorgestellt, volksnaher, ja, auch ein bisschen netter. Und habe womöglich eine Sache verstanden, während seines kurzen Auftritts in unserer Halle: Dass er so ziemlich überhaupt keinen Wert mehr darauf legt, dass die Deutschen ihn lieben – auch nicht solche, die zufällig in Treptow Tennis spielen.

Neulich hat Becker die italienischen Medien zur Ordnung gerufen. Weil die sich gerade zuhauf darüber beschwerten, dass Jannik Sinner in diesem Jahr nicht im Davis-Cup-Finale antreten will, ließ er sie per “Corriera della Sera”-Interview wissen: “Jannik Sinner gehört nicht Italien. Jannik Sinner gehört nur Jannik Sinner”.

Ich glaube, dieser Satz gibt einen Hinweis darauf, warum Boris Becker so auftritt, wie er auftritt. Weil er das, was Jannik Sinner gerade erlebt, seit seinem ersten Wimbledon-Sieg vor 40 Jahren durchmacht: Dass jeder Mensch, zumindest jeder deutsche, der ihm zufällig über den Weg läuft, das Gefühl hat, Anspruch auf ihn zu haben. Anspruch auf ein Selfie, ein Autogramm, einen flotten Spruch, ein Lächeln. Und dass Boris Becker das – zumindest mittlerweile – anders sieht.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: In keiner Sekunde hat sich Boris Becker an diesem Dienstag in Treptow daneben benommen. Er ist nie laut geworden, hat niemanden beleidigt oder vorgeführt, nicht mal böse angeschaut. Er war von Anfang bis Ende Vollprofi – professionelle Distanz inklusive. Dass sich Menschen, die als Kind Nächte durchgemacht haben, um ihn in Melbourne und New York spielen zu sehen, mehr erhoffen? Verständlich. Dass sich andere Menschen jeden Tag genau dasselbe erhoffen, egal wo Becker auftaucht? Vergisst man schnell.

Nachdem der größte Gast, den die Teufel jemals auf ihrer Anlage empfangen durften, sich – großzügigerweise – fünf Minuten Zeit nimmt, einige Fragen für den Club-Newsletter zu beantworten, isst er bei Göki noch eine vegetarische Pizza, die nun natürlich schleunigst in “Pizza Boris” umgetauft werden muss. Um 14.30 Uhr steigt er ins Auto Richtung Flughafen. Wohin der Flieger geht? Weiß wieder keiner so recht. Vermutlich kann Boris Becker ganz gut damit leben.

„Hartplatz geht ein bisschen mehr auf die Knochen“

Boris Becker im weltexklusiven Interview: Der sechsfache Grand-Slam-Champion über unsere neue Hartplatz-Halle, mentale Stärke – und das Comeback des Volleys

Boris Becker, willkommen bei den Treptower Teufeln.

Vielen Dank.

Sie haben die Eröffnung unserer neuen Hartplatz-Halle nur um einen Tag verpasst, waren einer der ersten, die in ihr gespielt haben. Was sagen Sie?

Kann sich sehen lassen. Habe ich in Treptow so nicht erwartet, muss ich ganz ehrlich sagen. Das ist eine tolle Dreifeldhalle, auch der Belag – was ist es eigentlich, Rebound Ace?

Es heißt ein bisschen anders, aber es ist quasi Grunde Rebound Ace, ja.

Das ist gut. Wir spielen das halbe Jahr in der Halle, aufgrund des Wetters und des langen Winters, deshalb ist eine gute Halle auch notwendig.

Viele unserer Mitglieder haben noch nie auf Hartplatz gespielt, nur auf Sand. Sie haben drei Grand-Slam-Turniere auf Hardcourt gewonnen – einmal in New York, zweimal in Melbourne. Tipps?

Hartplatz geht ein bisschen mehr auf die Knochen. Da muss man schauen, dass man die Knie, die Hüften, die Sprunggelenke warm hat. Es ist eigentlich einfacher als auf Sand, weil der Ball eben springt, auf Sand verspringt er schon mal. Also: Es ist ein toller Belag, er ist aber etwas körperlicher.

Die Beinarbeit ist wichtig, oder?

Ja, der Absprung des Balles ist etwas höher, wahrscheinlich auch etwas schneller als auf Sand. Aber insgesamt ist Hartplatz ein guter Belag, um Tennis zu spielen.

Zurück in eine andere Halle. Vor 29 Jahren: Hannover, ATP Finals, Becker gegen Sampras. Wir haben neulich nochmal alle fünf Sätze mit der Mannschaft geguckt – ein unglaubliches Match! Was uns aufgefallen ist: der unbeirrbare Fokus, auf beiden Seiten. Kein Ausraster, über Stunden, nicht mal ein Blick zum Coach. Ist das der bessere Weg – im Vergleich zu den großen Emotionen, die die Profis heute oft auf dem Platz zeigen?

Ich glaube, die Mischung macht’s. Man muss natürlich den Fokus behalten, in unserem Fall damals noch über fünf Sätze. Heute spielt man beim ATP-Finale zwei Gewinnsätze, das heißt: Das Spiel ist schneller gewonnen und verloren – umso wichtiger, die geistige Disziplin zu behalten. Und natürlich gibt es immer wieder einen Austausch mit dem Trainer. Und es gibt auch mal eine Emotion, wenn ich einen guten Schlag mache – oder einen schlechten. Man muss aber mit der Kraft haushalten, das ist der Hintergrund: Wenn man zu emotional wird, verliert man zu schnell Kraft.

Wir stehen hier auf der Terrasse, direkt über unseren Sandplätzen. Da unten sollen hin und wieder durchaus mal Schläger fliegen. Im Amateurbereich sieht man ja die größten Zusammenbrücke auf dem Platz. Haben Sie einen Trick, wie man die Nerven behält? In Ihrem gerade erschienen Buch „Inside“ beschreiben Sie, dass Sie den Stoizismus für sich entdeckt haben.

Neu entdeckt habe ich ihn nicht. Wenn Sie das Finale von Hannover gesehen haben, diese fünf Sätze: Das war ja Stoizismus auf dem Tennisplatz, das habe ich damals schon gemacht. Man muss versuchen, die Konzentration zu behalten – und nur das zu kontrollieren, was man auch kontrollieren kann. Du kannst nur deine Emotionen, deine Gedanken kontrollieren, nicht die des Gegners.

Gibt es da einen Trick: vielleicht zum Himmel schauen, um sich zu sammeln?

Es geht vor allem um gesunden Menschenverstand. Ich kann in diesem Interview ja auch nicht kontrollieren, was Sie mich fragen. Nur das, was in meinem Kopf passiert und was aus meinem Mund rauskommt.

Sie sind einer der besten Volleyspieler aller Zeiten. In Deutschland gilt das Netz, zumindest mittlerweile, eher als eine Art No-Go-Area, da taucht man im Amateurbereich kaum auf. Sie haben auch schon von führenden deutschen Spielern verlangt, aggressiver zu spielen. War der Volley zu Ihrer Zeit einfach üblicher, oder hatten Sie einen Trainer, der besonderen Wert drauf gelegt hat?

Es war üblicher, ans Netz zu gehen. Obwohl, wenn Sie das ATP-Finale in Turin gesehen haben, ist auch Alcaraz heute häufiger am Netz als noch vor zwei, drei Jahren, Sinner genauso. Ich glaube, das Spiel verändert sich da gerade ein bisschen. Dass Spieler das Netz wieder für sich entdeckt haben, auch den Aufschlag. Es gab eine Zeit, da wurde der Aufschlag ein bisschen vernachlässigt. Um ein kompletter Spieler zu sein, muss man sich aber auch am Netz wohlfühlen.

Weil Sie es angesprochen haben: Zum Abschluss noch einmal zurück in die Halle – nach Turin. Sie kommen gerade von dort, von den ATP Finals. Teilen Sie den Eindruck, dass Carlos Alcaraz im Winter in die Halle immer ein bisschen unglücklicher wirkt als draußen in der Sonne?

Er hat jetzt sehr gut gespielt, vielleicht seine beste Hallenform überhaupt erreicht. Aber Sinner ist momentan in der Halle fast unschlagbar. Alcaraz hat seine beste Saison gespielt, über das ganze Jahr, und ist zum Jahresende auch zurecht die Nummer 1 – allerdings nur mit einem ganz knappen Vorsprung auf Jannik Sinner.

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